Wie können Kita und Grundschule Kidner stark machen für ein Leben in einer Welt im Wandel?
Vision Teil 4: Was bedeutet das für den Auftrag von Kita und Grundschule? (vorläufige Fassung, Stand Dezember 2024)
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ – diese Weisheit ist so richtig wie falsch. Denn das menschliche Gehirn ist plastisch, von der Geburt bis zum Tod. Es lernt immer, auch im Alter. Doch am allermeisten lernt es in den ersten Lebensjahren. Mehr noch: In den ersten Jahren entwickelt es die Grundlagen, auf denen alles weitere Lernen aufbaut. Das gilt vor allem für die Sprache, für den Umgang mit sich und anderen und für die Haltung, mit der sich ein Menschin der Welt wahrnimmt und in der Welt handelt. Zugespitzt lässt sich sagen: Wie 30-jährige Menschen im Jahr 2050 handeln, hängt vor allem von ihrer Entwicklung als Kinder in den 2020er Jahren ab. Auf den Anfang kommt es an!
Kinder leben und lernen im Hier und Jetzt. Sie lernen nicht auf Vorrat, um das Gelernte in 25 Jahren anzuwenden. Aber das, was sie als Kinder lernen, legt die Spuren, denen die künftigen Lernprozesse folgen. Noch entscheidender ist, wie sie lernen. Denn unser Gehirn speichert zusammen mit dem Wissen immer auch die Emotion ab, die den Lernprozess bestimmt haben: Wer Jahre lang bestätigt bekommt, in Mathe nicht zu genügen, hat im Matheunterricht vor allem gelernt: „Ich kann nicht“. Wer als Kind dagegen häufig erlebt, dass die eigenen Themen wichtig sind, wer eine Umgebung erlebt, die beim Bewältigen der selbst gestellten Herausforderungen unterstützt und wer sich selbst am Ende solcher Prozesse als erfolgreich erlebt, wird am folgenden Tag motiviert die nächste Herausforderung anpacken und mit größerer Wahrscheinlichkeit sein Leben gestalten in der Überzeugung: „Ich kann“.
„In Deutschland tradieren wir bislang eine Bildung, die den Kindern von heute das Wissen von gestern mit den Methoden von vorgestern beibringt – und damit entlassen wir sie in die Welt von morgen, in der sie die Herausforderungen von übermorgen antizipieren und bewältigen müssen.“ So ähnlich hat es Andreas Schleicher formuliert. Die IZB ist überzeugt, dass die Menschen, die morgen die Welt gestalten werden, sich leichter tun, wenn sie früh grundlegende fachliche Kompetenzen erworben haben. Entscheidend dafür, ob die Menschen im Jahr 2050 oder 2090 in Verantwortung für sich, für andere und für unsere Welt handeln können, sind aber ihre grundlegenden kognitiven sowie ihre emotionalen und sozialen Kompetenzen. All das wird überstrahlt von den Haltungen, Einstellungen und Werten, mit denen sie entscheiden, was sie warum und wie tun.
Dafür sind die ersten Lebensjahre von großer Bedeutung. Neben den genetischen Veranlagungen leistet das Elternhaus hierbei einen wesentlichen Beitrag. Darüber hinaus tragen Kita und Grundschule entscheidend dazu bei, das Erlernte zu erweitern und bei Bedarf zu korrigieren. Mit Einsetzen der Pubertät ist die Art, wie Menschen in die Welt schauen, nachhaltig ausgebildet. Genau darum sind Kita und Grundschule die wichtigsten Bildungseinrichtungen für die Herausbildung zentraler Haltungen und Kompetenzen.
Abgeleitet von der Zukunft, der wir entgegenblicken und den Kompetenzen, welche erwachsende Personen im Kontext dieser Entwicklungen besitzen sollten, beschreiben wir im Folgenden die zentralen Aufgaben von Kita und Grundschule, damit Kinder stark werden für einen lebenslangen konstruktiven Umgang mit Veränderungen.
Fachliche Kompetenzen
Sprechen, Schreiben, Lesen
• Kinder beherrschen am Ende der Kita die deutsche Sprache
• Kinder können am Ende der Grundschulzeit lesen & schreiben
• Kinder können Informationen beschaffen, verstehen, bewerten, festhalten und weitergeben
Sprache ist der Schlüssel zur Welt. Die eine ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache ist eine Voraussetzung für den Schulerfolg in Deutschland, schon allein um dem Unterrichtsgeschehen folgen zu können. Ein Kind, das mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache in die Grundschule kommt, hat gute Chancen, erfolgreich Lesen und Schreiben zu lernen und in der weiterführenden Schule einen Abschluss zu erreichen, danach eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Mathematik, Bildung für nachhaltige Entwicklung
• Kinder haben ein mathematisches Grundverständnis (+ - * /, Raum, Relationen, Gewichte, Maße, …)
• Kinder haben ein Verständnis von ökonomischen, ökologischen und sozialen Zusammenhängen (BNE = Bildung für nachhaltige Entwicklung)
Angesichts eines rasanten Wachstums der Kompetenzen von künstlicher Intelligenz ist es fraglich, wie tiefgehend die mathematischen Kompetenzen der meisten Bürger:innen im Jahr 2050 sein müssen. Was sie aber immer benötigen, ist die Fähigkeit Fakten zu prüfen und kritisch zu hinterfragen. Die immer größere Menge an Informationen, die immer größere Bedeutung von Daten für die Bewertung von Situationen und Entwicklungen – man denke nur an die Inzidenz während der Corona-Pandemie – erfordern die Fähigkeit, Daten und ihre grafische Darstellung interpretieren und kritisch hinterfragen zu können.
Das gilt insbesondere beim Umgang mit dem Klimawandel. Was heißt es, wenn der Meeresspiegel steigt? Ist das viel? Was bedeutet das für mich, was bedeutet es für Menschen, die an der Küste leben? Welche Folgen hat es, wenn ganze Dörfer und Städte unbewohnbar werden und welche Folgekosten haben die Dürre in Ostdeutschland und die Überschwemmungen in meinem Keller? Und was hat das mit meinen Urlaubsflügen zu tun?
Kinder müssen am Ende der Grundschulzeit nicht alle fachlichen Details kennen und verstehen, aber sie brauchen ein grundsätzliches Verständnis für Zusammenhänge, um daraus informierte Entscheidungen für das eigene Handeln ableiten zu können.
Bildung in einer digitalen Welt
• Kinder sind mündig im Umgang mit digitalen Medien & Technik
Kinder wachsen bereits heute in einer Welt auf, in der sie ständig digitalen Medien begegnen. Sie wachsen hinein in eine Welt, in der digitale Werkzeuge und Anwendungen allgegenwärtig sind, viele Probleme lösen, aber auch viele neue schaffen werden. Ein selbstbestimmtes Leben in einer umfangreich digitalisierten Zukunft setzt voraus, digitale Geräte, Tools und Anwendungen zu verstehen und mündig mit ihnen umzugehen. Dies lernen sie vor allem im begleiteten Umgang, keinesfalls jedoch durch Abschirmen und Fernhalten.
Analoges gilt für den Umgang mit technischen Werkzeugen, Maschinen und Lösungen. In einer Welt, die an immer mehr Stellen auf die Unterstützung durch technische Geräte setzt, die darüber hinauszunehmend mit digitalen Komponenten arbeiten, können Menschen sich vor allem dann der technischen Unterstützungssysteme bedienen, wenn sie ein grundsätzliches Verständnis davon haben. Kita und Grundschule haben daher den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Kinder verstehen: Was von Menschen gemacht ist, kann von Menschen gesteuert, verändert und weiterentwickelt werden.
Grundlegende kognitive Kompetenzen
Förderung exekutiver Funktionen
Kinder können:
• sich Ziele setzen
• Probleme lösen
• Lösungswege definieren und ggf. anpassen
• Ergebnisse und Lösungswege reflektieren
Wer früh lernt, das eigene Verhalten bewusst zu steuern, hat eher Erfolg in Schule, Ausbildung und Studium, hat mehr Chancen auf ein gesichertes Einkommen, in gelingenden Beziehungen zu leben, ist seltener in Konflikt mit dem Gesetz, lebt tendenziell gesünder und länger. Das hinter der Selbststeuerungsfähigkeit liegende Konzept der „exekutiven Funktionen“ meint: Menschen sind fähig, sich Ziele zu setzen und Wege zu entwickeln, mit denen sie diese Ziele erreichen. Sie können sich auf Aufgaben fokussieren, bei auftretenden Schwierigkeiten flexibel umdenken, ohne das Ziel aus dem Auge zu verlieren und wissen, wo sie sich Hilfe holen können. Mit diesen Fähigkeiten ausgestattet erleben sie häufiger Erfolg durch ihre eigene Leistung. Das klingt alles sehr „erwachsen“, lässt sich aber schon im Spiel ganz junger Kinder beobachten.
Kinder entwickeln ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung, wenn sie Freiräume für eigene Themen erhalten. Pädagogische Fachkräfte unterstützen sie dabei in einem Maß, das ihrem aktuellen Entwicklungsstand entspricht und so Erfolgserlebnisse ermöglicht. Jedes Kind kann seine individuelle Fähigkeit zur Selbststeuerung ausbauen. Wichtig ist, dass die begleitenden Pädagog:innen erkennen, wie die für dieses Kind gute Balance zwischen Struktur und Offenheit für dieses Kind im jeweiligen Entwicklungsstadium aussieht.
Umgang mit Komplexität
• Kinder können mit komplexen und unsicheren Situationen umgehen
Kinder leben in der Gegenwart, die nie einfach ist. „Warum kommen Wolodymyr und Selin in unsere Kita oder Schule und bleiben nicht dort, wo andere sie verstehen?“ – „Warum brennt unser Wald, warum hat der Bach hinterm Haus plötzlich unseren Keller überschwemmt?“ – „Warum dürfen wir nicht in die Kita oder Schule und müssen Masken tragen?“ Auftrag und Ziel der Elementar- und Primarbildung ist es, Kinder in einem ko-konstruktiven Dialog dabei zu unterstützen, ein aktuelles Verständnis dessen zu entwickeln, was warum geschieht. Es geht darum, Kinder zu unterstützen, ein altersentsprechendes inneres Bild zu entwickeln, das ihnen hilft, das Erlebte einzuordnen. Besonders stark wirkt hier das Vorbild der Erwachsenen im eigenen Umgang mit Komplexität.
Sozial-emotionale Kompetenzen
Ich – Emotionsregulation
• Kinder können eigene Emotionen wahrnehmen, benennen, bewerten & damit umgehen
• Kinder übernehmen für sich selbst Verantwortung
Gefühle wie Freude und Trauer, Angst und Wut, das Bedürfnis nach Anerkennung, Harmonie und Wohlbefinden machen uns Menschen aus. Es sind Kräfte, die unsere Entscheidungen und unser Handeln stark beeinflussen, im Guten wie im Schlechten. Ein Mensch, der sich nur von seinen spontanen Emotionen steuern lässt, ist nicht Herr oder Herrin seiner und ihrer selbst und gefährdet damit potenziell sich und andere.
Wie erkenne ich meine Emotionen? Was tut mir gut? Wo kann ich Hilfe holen, um aus negativen Emotionen herauszukommen? Wie kann ich mich verhalten, um weniger von meinen unangenehmen Gefühlen beherrscht zu werden? Und wie, um positive Emotionen häufiger zu erleben? Dies beschreibt eine äußerst wichtige pädagogische Aufgabe, da Kinder auf die Begleitung und Unterstützung von Erwachsenen angewiesen sind. Um zu lernen, über sich selbst nachzudenken und zunehmend bewusster zu handeln, benötigen sie vor allem Feedback und altersgerechte Methoden.
Auch bei der Emotionsregulation gilt: Je früher Kinder lernen, mit den eigenen Emotionen umzugehen, desto erfolgreicher kann ihre weitere Entwicklung verlaufen. Eine Welt, die potenziell bedrohlicher wird, braucht Menschen, die nicht von Sorge und Angst gelähmt sind.
Du – Perspektivenübernahme
• Kinder können die Perspektive anderer übernehmen, sind emphatisch und kompromissbereit
Je heterogener unsere Gesellschaft wird, desto wichtiger ist die Fähigkeit, das Gegenüber zu verstehen. Es wird immer bedeutsamer, sich in andere hineinzuversetzen und die erlebte Situation auch aus deren Perspektive zu betrachten. Dies ist eine Fähigkeit, die im Zusammensein mit anderen Kindern und bei ko-konstruktiver Begleitung durch Erwachsene bestens entwickelt werden kann. Der Alltag in Bildungseinrichtungen bietet genügend Anlässe, um mit Kindern über ihr eigenes Verhalten und das der anderen zu reflektieren und bewusst zu machen, was das eigene Verhalten bei anderen auslöst. Im besten Fall mündet eine solche Situation nicht in Verboten oder Nivellierung, sondern in gemeinsam vereinbarten Regeln und der Erfahrung: Wenn ich verstehe, was den anderen umtreibt, können wir gemeinsam dafür sorgen, dass es uns allen gut geht – als Kinder und später als Erwachsene.
Wir – Verantwortungsübernahme
• Kinder erfahren sich als aktiven Part in demokratischen Prozessen
• Kinder übernehmen Verantwortung für andere
Jede Gemeinschaft lebt von den Entscheidungen, die zur Gestaltung des Miteinanders getroffen werden. Wenn unsere Kinder in eine Welt hineinwachsen, die sich ständig und zum Teil vermutlich dramatisch verändern wird, müssen sie die Regeln für ein gutes Zusammenleben immer wieder überdenken, anpassen und neu aushandeln. Die Akzeptanz von Regeln steigt, wenn sich Menschen in das Aushandeln der Regeln aktiv einbringen, wenn sie das Gefühl haben, gehört und mit ihren Anliegen ernst genommen zu werden.
Auch hier ist zu erwarten: Wenn ein Kind früh erfährt, dass es wichtig ist und die eigene Stimme zählt, je häufiger sich ein Kind in Entscheidungsprozessen mit seinen Wünschen und Vorstellungen eingebunden ist, desto eher wird es sich als erwachsene Person in demokratische Prozesse einbringen und Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen.
Haltungen (Überzeugungen)
Wertebildung
• Kitas & Grundschulen vermitteln Werte & unterstützen bei der Entwicklung eines inneren Kompasses
In Weißwasser, einer Stadt in der sächsischen Lausitz, lebten vor der Wende gut 37.000 Menschen. Anfang der 2020er Jahre war die Einwohnerzahl auf ca. 15.000 gefallen. Um Infrastrukturkosten zu sparen, wurden ganze Stadtteile zurückgebaut. So auch einer, in dessen Mitte eine große Kita stand. Diese Kita wird für die Kinder aus den angrenzenden Wohngebieten weiterhin gebraucht. Als das Kita-Team von den dramatischen Veränderungen im Umfeld ihrer Bildungseinrichtung erfuhr, reagierten die Pädagoginnen zunächst mit Wut: „Die da oben machen alles kaputt!“. Dann mit Fatalismus: „Wir können eh nix ändern.“ Bis eine Kollegin meinte: „Moment mal: wo heute Plattenbauten stehen, sollen Bäume gepflanzt und ein Wald angelegt werden. Wenn unsere Kita bleibt, werden wir die größte Wald-Kita Sachsens, vielleicht Deutschlands. Daraus machen wir unser pädagogisches Konzept!“
Es ist beeindruckend zu erleben, wie es den pädagogischen Fach- und Leitungskräften dieser Kita gelungen ist, den konstruktiven Umgang mit Veränderungen zum Leitprinzip der Arbeit in ihrer Kita umzusetzen. Gemeinsam mit den Kindern, deren Eltern und Menschen aus den benachbarten Stadteilen verändern sie voller Elan ihre Umgebung. Tagtäglich erleben die Kinder, dass sie etwas gestalten können und das, was sie tun, positive Auswirkungen auf ihre Umgebung hat. Und sie erleben das Vorbild ihrer Erzieher:innen im Umgang mit Veränderung.
Wertebildung entsteht im Tun. Viel mehr als über Werte zu sprechen, prägen das eigene Handeln und das Vorbild der Erwachsenen.
Selbstwirksamkeit
• Kinder verlassen Kita und Grundschule mit der Freude am Lernen und der Offenheit für Neues
• Kinder verlassen eine Bildungseinrichtung voller Zuversicht und mit der Gewissheit: „ich kann“.
Kita und Grundschule sind in der Regel die ersten institutionalisierten Bildungsorte eines Menschen. In ihnen erfahren Kinder im besten Fall so viel Freude am eigenen absichtsvollen Lernen, dass sie künftige Anlässe zur Kompetenzerweiterung als Chance zur Entwicklung und Bereicherung der eigenen Kompetenzen verstehen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass ein Kind, das 2020 geboren wurde und 2040 oder 2045 in das Berufsleben eintritt, den erlernten Beruf bis zum Eintritt in den Ruhestand – wann immer der sein wird – in der einmal erlernten Art und Weise ausüben wird. Eher ist davon auszugehen, dass viele Berufe, die wir heute kennen, schon 2050 nicht mehr gebraucht werden, da z.B. die künstliche Intelligenz sie übernimmt oder stark verändert. Dasselbe gilt für das ganze Leben, das nach Einschätzung von Zukunftsforschern schneller anders und anders anders sein wird. Wer mit Veränderung konstruktiv umgehen kann, wer sich an neue Aufgaben anpassen, und dazu neue Kompetenzen erwerben kann und will, wird aktiv zur Gestaltung einer sich ständig verändernden Welt beitragen können.
Die Grundlage dafür bildet die innere Überzeugung. Zuversicht und Optimismus entwickeln Kinder in Kita und Grundschule, wenn sie vor allem die Erfahrung machen: „Ich kann.“